30 Jun 2021 by Ludwig Boltzmann

Pressemitteilung: Sprechen Sie immunologisch? – Eine neue Sprache für angeborene Immunstörungen

Ein detailliertes Vokabular, um seltene, angeborene Immunstörungen auf der ganzen Welt zu erkennen und zu erforschen? Genau das gibt es jetzt dank einer neuen Studie unter der Leitung des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases in Wien sowie des University Medical Center Groningen. Angeborene Immunstörungen betreffen oft nur eine Handvoll Kinder auf der ganzen Welt. Durch die nun veröffentlichte Überarbeitung der Nomenklatur, können diese Krankheiten besser erkannt, erforscht und behandelt werden.

Erkrankt ein Kind in Österreich an einer angeborenen Immunstörung, dann beginnt für seine Ärztin oder seinen Arzt eine aufwändige Recherche nach ähnlichen Fällen auf der ganzen Welt. Gab es einen solchen oder einen ähnlichen Fall schon einmal? Wie wurde behandelt? Was hat geholfen? Aber selbst wenn in Japan ein Kind an genau derselben Krankheit leidet, erfahren die behandelnden Ärztinnen und Ärzte wahrscheinlich nie voneinander. Das wollen Forscherinnen und Forscher des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD) ändern. „Damit wir Kindern mit seltenen Krankheiten helfen können, braucht es den weltweiten Austausch zwischen Forscherinnen und Forschern. Dieser Austausch gelingt nur dann, wenn alle dieselbe Sprache sprechen, Krankheiten einheitlich beschrieben werden und lokale Register international vernetzt sind“, erklärt Assoc.-Prof. Dr. Kaan Boztug, Direktor am LBI-RUD sowie Wissenschaftlicher Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung.

Nur was man benennen kann, findet man auch
Boztugs Forschungsgruppe am LBI-RUD hat daher gemeinsam mit Dr. Marielle van Gijns Gruppe vom  University Medical Center Groningen international wichtige Partner und weltweit führende Fachgesellschaften im Feld der Immunkrankheiten an einen Tisch geholt und die sogenannte Human Phenotype Ontology (HPO) weiterentwickelt. HPO ist eine eigene Sprache, um klinische Veränderungen im menschlichen Körper zu benennen, die mit einzelnen Krankheiten einhergehen. „Wir haben uns mit Dr. Peter Robinson, dem Entwickler der HPO vernetzt und erstmals das Vokabular systematisch für immunologische Erkrankungen erweitert. Symptome für seltene, angeborene Immunstörungen haben wir genauer und detaillierter beschrieben, um weltweit eine einheitliche Diagnose zu ermöglichen“, sagt Dr. Matthias Haimel, Ko-Erstautor der Studie und Bioinformatiker in der Forschungsgruppe von CeMM Principal Investigator Prof. Dr. Christoph Bock am LBI-RUD. „Denn bisher wurden in verschiedenen Ländern oft unterschiedliche Begriffe für die gleiche Krankheit und deren Symptome verwendet“, erklärt Julia Pazmandi, MSc, Ko-Erstautorin der Studie und PhD-Studentin in Boztugs Forschungsgruppe. Kaan Boztug fügt hinzu: „Nur was man benennen kann, das findet man auch. Gleichzeitig können wir durch die genaue Beschreibung auch neue Krankheiten und genetische Varianten entdecken.“

Die HPO beinhaltet 2.120 seltene Erkrankungen, von denen angeborene Immunstörungen eine Untergruppe bilden. Für letztere war die HPO bisher nicht spezifisch genug und wurde daher kaum verwendet. Um dies zu ändern, haben sich die Forscherinnen und Forscher regelmäßig sowohl in Wien als auch virtuell getroffen und vier von zehn der für angeborene Immunstörungen relevanten Krankheitsgruppen in der HPO weiterentwickelt. Neue Begriffe wie „wiederkehrendes Fieber“ oder „ungewöhnliche Infektionen“ wurden hinzugefügt. Um das zu bewerkstelligen, wurden ausgewählte Fachartikel mithilfe maschinellen Lernens auf Fachbegriffe analysiert, die dann von Expertinnen und Experten in einem Review-Verfahren als korrekt oder nicht korrekt zugeordnet wurden.

Top-10-Ranking grenzt die Diagnose ein
In einem weiteren Schritt analysierten die Forscherinnen und Forscher 30 Patientinnen und Patienten aus einer Datenbank. HPO-Begriffe wurden Krankheitsbildern zugeordnet und basierend darauf die Ähnlichkeit zu allen zuvor überarbeiteten HPO-Erkrankungen berechnet. In der Mehrzahl der Fälle fand sich die korrekte Diagnose in den Top-10-Erkrankungen, die für die jeweilige Symptomatik berechnet wurden. „Durch künstliche Intelligenz lassen sich bestimmte Symptome nun besser einer seltenen Krankheit zuordnen. Für Ärztinnen und Ärzte ist es heutzutage unmöglich, jede seltene Erkrankung zu kennen und manche Immunstörungen ähneln einander sehr stark. Patientinnen und Patienten soll damit eine jahrelange Suche nach der richtigen Diagnose erspart werden. So ist oft früher eine Behandlung möglich und die Überlebenschancen steigen“, sagt Boztug.
Dr. Matthias Haimel ergänzt: „In unserer Studie nutzen wir maschinelles Lernen, um die Auswahl der möglichen Diagnosen für Patientinnen und Patienten einzugrenzen und das volle Spektrum an Begriffen aus der Literatur auf Knopfdruck abrufen zu können. Der gleiche Prozess ließe sich auf unstrukturierte klinische Notizen anwenden. Abnorme klinische Werte von Krankenakten könnten so automatisch in HPO-Codes übersetzt werden und damit eine präzisere Diagnostik fördern.“

Internationalität – Der Schlüssel zu seltenen ErkrankungenWeltweit mehrere Personen mit derselben Krankheit zu finden ist oft entscheidend, um Einblicke in typische Erscheinungsformen zu gewinnen. Die entwickelten HPO-Begriffe erlauben eine bessere Beschreibung der Symptome und Erstellung eines elektronischen Krankheitsprofils. Der effiziente Austausch von solchen anonymisierten Krankheitsprofilen über Institutionen und Grenzen hinweg ist eine große Herausforderung. Plattformen, die genau das ermöglichen, werden schon vom LBI-RUD als Teil des Undiagnosed Diseases Network International (UDNI) verwendet, um Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten zu helfen.

Die vorliegende Arbeit beruht auf einer internationalen Kollaboration unter der Führung des LBI-RUD und des University Medical Center Groningen (Niederlande), bestehend aus Ärztinnen und Ärzten, Forscherinnen und Forschern, Genetikerinnen und Genetikern sowie Bioinformatikerinnen und Bioinformatikern. Insgesamt waren über einen Zeitraum von zwei Jahren mehr als 30 Expertinnen und Experten beteiligt. Das Projekt erfolgte in Zusammenarbeit mit drei der weltweit führenden Fachgesellschaften im Feld der Immunkrankheiten, nämlich dem Europäischen Referenznetzwerk für seltene primäre Immundefizienzen, autoinflammatorische und Autoimmun-Erkrankungen (ERN-RITA), der Europäischen Gesellschaft für Immundefizienzen (ESID) und der Internationalen Gesellschaft für systemische autoinflammatorische Erkrankungen (ISSAID).
Über die Human Phenotype Ontology
Die Human Phenotype Oncology (HPO) umfasst ein breites Vokabular um Krankheiten zu beschreiben und dient im Bereich der seltenen Erkrankungen als Werkzeug um sich zu verständigen. Die HPO enthält aktuell ca. 200.000 Anmerkungen zur Beschreibung vererbbarer Krankheiten, von denen 2.120 zu den seltenen Erkrankungen gezählt werden. Im Bereich der angeborenen Immunstörungen fehlten bisher entsprechende eindeutige und verständliche Beschreibungen. Trotz der laufenden Bemühungen gibt es immer noch entscheidende Lücken in der HPO-Krankheitsontologie um das gesamte Krankheitsbild seltener, immunologischer Krankheiten zu beschreiben.

Über seltene Erkrankungen
Allein in Österreich leiden ca. 400.000 Menschen an einer seltenen Erkrankung. Eine Erkrankung gilt als selten, wenn weniger als einer von 2.000 Menschen betroffen ist.  Es gibt somit zwar eine große Zahl an Personen, die an einer seltenen Erkrankung leiden, allerdings nur wenige mit derselben spezifischen Krankheit. Dies führt zu einer enormen Verzögerung bei der Diagnose und Behandlung der betroffenen Patientinnen und Patienten. Will man seltene Erkrankungen beforschen, ist eine weltweite Suche nach ähnlichen Fällen nötig, was sich oft schwierig gestaltet.

Publikation:
Curation and Expansion of Human Phenotype Ontology for Defined Groups of Inborn Errors of Immunity

Matthias Haimel*, Julia Pazmandi*, Raúl Jiménez Heredia, Jasmin Dmytrus, Sevgi Köstel Bal, Samaneh Zoghi, Paul van Daele, Tracy A. Briggs, Carine Wouters, Brigitte Bader-Meunier, Florence A. Aeschlimann, Roberta Caorsi, Despina Eleftheriou, Esther Hoppenreijs, Elisabeth Salzer, Shahrzad Bakhtiar, Beata Derfalvi, Francesco Saettini, Maaike A. A. Kusters, Reem Elfeky, Johannes Trück, Jacques G. Rivière, Mirjam van der Burg, Marco Gattorno, Markus G. Seidel, Siobhan Burns, Klaus Warnatz, Fabian Hauck, Paul Brogan, Kimberly C. Gilmour, Catharina Schuetz, Anna Simon, Christoph Bock, Sophie Hambleton, Esther de Vries, Peter Robinson, Marielle van Gijn†#, Kaan Boztug†#

* and †, these authors contributed equally

# to whom correspondence should be addressed: Kaan Boztug, Marielle Van Gijn

J Allergy Clin Immunol 2021, Epub ahead of print

doi: 10.1016/j.jaci.2021.04.033 .
https://doi.org/10.1016/j.jaci.2021.04.033

Förderung:
Diese Studie wurde ermöglicht durch Förderungen des Europäischen Forschungsrates (ERC). Zusätzliche finanzielle Unterstützung für die durchgeführten Workshops wurde durch das Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseaes (LBI-RUD), das Europäischen Referenznetzwerks für Seltene Primäre Immundefizienzen, Autoinflammatorische und Autoimmun-Erkrankungen, (ERN-RITA) und die Europäischen Gesellschaft für Immundefizienzen, ermöglicht (ESID).

Über das Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases

Das Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD) wurde von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft im April 2016 in Zusammenarbeit mit dem CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Medizinischen Universität Wien und der St. Anna Kinderkrebsforschung gegründet. Die drei Partnerinstitutionen stellen gemeinsam mit dem CeRUD die wichtigsten Kooperationspartnerinnen des LBI-RUD dar, dessen Forschungsschwerpunkt auf der Entschlüsselung von seltenen Erkrankungen des Immunsystems, der Blutbildung, und des Nervensystems liegt – diese Arbeiten bilden nicht nur die Basis für die Entwicklung von personalisierten Therapieansätzen für die unmittelbar Betroffenen, sondern liefern darüber hinaus einzigartige und neue Einblicke in die Humanbiologie. Das Ziel des LBI-RUD ist es, unter Einbeziehung der Expertise seiner Partnerorganisationen ein koordiniertes Forschungsprogramm zu etablieren, das neben den wissenschaftlichen auch gesellschaftliche, ethische und ökonomische Gesichtspunkte seltener Erkrankungen einbezieht und berücksichtigt.

Weitere Informationen: www.rarediseases.at

Über die St. Anna Kinderkrebsforschung

Die St. Anna Kinderkrebsforschung (St. Anna Children’s Cancer Research Institute, CCRI) ist eine internationale und interdisziplinäre Forschungseinrichtung, die das Ziel verfolgt, durch innovative Forschung diagnostische, prognostische und therapeutische Strategien für die Behandlung von an Krebs erkrankten Kindern und Jugendlichen weiterzuentwickeln und zu verbessern. Dabei stehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der St. Anna Kinderkrebsforschung in engem Austausch mit dem St. Anna Kinderspital und vielen anderen Instituten weltweit. Unter Einbeziehung der spezifischen Besonderheiten kindlicher Tumorerkrankungen arbeiten engagierte Forschungsgruppen auf den Gebieten Tumorgenomik und -epigenomik, Immunologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Bioinformatik und klinische Forschung gemeinsam daran, neueste wissenschaftlich-experimentelle Erkenntnisse mit den klinischen Bedürfnissen der Ärztinnen und Ärzte in Einklang zu bringen und das Wohlergehen der jungen Patientinnen und Patienten nachhaltig zu verbessern.
www.ccri.at

www.kinderkrebsforschung.at

Über das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist eine internationale, unabhängige und interdisziplinäre Forschungseinrichtung für molekulare Medizin unter wissenschaftlicher Leitung von Giulio Superti-Furga. Das CeMM orientiert sich an den medizinischen Erfordernissen und integriert Grundlagenforschung sowie klinische Expertise um innovative diagnostische und therapeutische Ansätze für eine Präzisionsmedizin zu entwickeln. Die Forschungsschwerpunkte sind Krebs, Entzündungen, Stoffwechsel- und Immunstörungen sowie seltene Erkrankungen. Das Forschungsgebäude des Institutes befindet sich am Campus der Medizinischen Universität und des Allgemeinen Krankenhauses Wien.

Weitere Informationen: www.cemm.at

Über die Medizinische Universität Wien

Die Medizinische Universität Wien (MedUni Wien) ist eine der traditionsreichsten medizinischen Ausbildungs- und Forschungsstätten Europas. Mit rund 8.000 Studierenden ist sie heute die größte medizinische Ausbildungsstätte im deutschsprachigen Raum. Mit 5.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, 30 Universitätskliniken und zwei klinischen Instituten, 12 medizintheoretischen Zentren und zahlreichen hochspezialisierten Laboratorien zählt sie auch zu den bedeutendsten Spitzenforschungsinstitutionen Europas im biomedizinischen Bereich.

Weitere Informationen: www.meduniwien.ac.at